Wähler/innen und Medien sind zu Recht daran interessiert, ob sich gewählte Parlamentsmitglieder tatsächlich so verhalten, wie sie es bei smartvote „versprochen“ haben.1
Mindestens ebenso wichtig ist aber die folgende Frage: Vermittelt der smartvote-Fragebogen ein gutes Abbild der Parlamentsrealität?
Dabei geht es nicht um die Qualität der Wahlempfehlung an sich, d. h. ob die empfohlenen Kandidierenden mir politisch tatsächlich am nächsten stehen. Sondern es geht um die Frage, ob der smartvote-Fragebogen dieselben ideologischen Grundkonflikte wie im Parlament erfasst. Dies ist nicht ganz selbstverständlich, denn mit bloss etwa 70 Fragen wird zu erfassen versucht, was später in über 4000 Nationalratsabstimmungen geschieht – ohne bei der Zusammenstellung der Fragen bereits zu wissen, welche Themen das Parlament dereinst tatsächlich beschäftigen werden. Kann das gut gehen?
smartvote und die Einordnung der Parlamentarier
Um dies herauszufinden, ziehen wir die Antworten zum smartvote-Fragebogen 2011 heran und vergleichen diese mit dem Stimmverhalten im Nationalrat im soeben abgeschlossenen ersten Jahr nach der Wahl (für diejenigen Nationalratsmitglieder, die auch den smartvote-Fragebogen ausgefüllt haben).
Zu diesem Zweck wurde für beide Datensätze unabhängig voneinander und mit demselben statistischen Verfahren die politische Position der einzelnen Nationalratsmitglieder auf der eindimensionalen Links-rechts-Achse ermittelt.2
Die Preisfrage lautet nun: Wie gut repräsentiert die Links-rechts-Position des relativ kurzen smartvote-Fragebogens die Links-rechts-Position aus Hunderten von Nationalratsabstimmungen?
Abbildung 1 bietet dazu eine visuelle Einschätzung. Hinter jedem Punkt steht ein einzelnes Parlamentsmitglied, für welches auf der horizontalen Achse die smartvote-Position und auf der vertikalen Achse die Nationalrats-Position eingezeichnet ist. Wären smartvote- und Nationalrats-Positionen identisch, würden diese exakt auf einer ansteigenden Geraden liegen (z. B. auf der schwarz eingezeichneten Regressionsgeraden).
Die Abbildung zeigt drei Dinge:
- Die Punktewolke passt sich insgesamt recht gut an die Gerade an. Zumindest sind keine Parlamentarier vorhanden, bei denen die smartvote- und Nationalrats-Positionen eklatant auseinanderfallen würden.
- Innerhalb der Parteien weisen die smartvote-Positionen eine grössere Streuung auf als die Nationalrats-Positionen. Dies hat zwei Ursachen: Einerseits ist der smartvote-Fragebogen absichtlich darauf ausgerichtet, politische Unterschiede auch innerhalb der Parteien sichtbar zu machen. Zweitens setzt im Parlament der Gruppendruck ein, die inhaltliche Geschlossenheit steigt.
- Die breitere Streuung bei smartvote führt zu einer stärkeren Durchmischung unter den Parteien: Die Parteigrenzen verschwimmen: z. B. zwischen CVP und FDP, zwischen FDP und SVP sowie zwischen SP und den Grünen.
Es scheint also, dass der smartvote-Fragebogen insgesamt die ideologischen Grundkonflikte gut erfasst, dass er aber im Vergleich zum Nationalrat das Trennende innerhalb der Parteien sowie das Verbindende zwischen den Parteien stark herausstreicht.
smartvote und die Einordnung der Parteien
Wie sieht es aber aus, wenn wir die Parteien einzeln unter die Lupe nehmen? Setzt der smartvote-Fragebogen auch die Parlamentarier innerhalb derselben Partei in die „richtige“ Reihenfolge?
Bevor wir diesen Test angehen, wollen wir uns die Positionsschätzungen im Links-rechts-Raum anhand der Parlamentsabstimmungen etwas genauer ansehen. Die Position besteht nämlich nicht aus einem exakten Punkt, sondern – weil es eine Modellschätzung ist und diese wie jede Schätzung mit Ungewissheit umgeben ist – aus einem „Idealpunkt“ und einem Vertrauensintervall. Der Idealpunkt ist jeweils der Mittelwert der Schätzung, das Vertrauensintervall gibt denjenigen Bereich an, in dem der „wahre“ Wert mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit (z. B. 95%) liegt.3
Abbildung 2 zeigt für die Nationalratsabstimmungen 2011/12 für jeden Parlamentarier von links bis rechts den geschätzten „Idealpunkt“ sowie daran anschliessend als durchgezogene Linie das 95%-Vertrauensintervall. Sofort wird erkennbar, dass in vielen Parteien sich die Vertrauensintervalle stark überlappen. Mit anderen Worten: Hier sind die „realen“ Positionen der einzelnen Parlamentsmitglieder statistisch kaum voneinander zu unterscheiden.
Hinweis: Die vertikale Anordnung der Punkte dient allein der Veranschaulichung der Intervalle und hat keine inhaltliche Bedeutung.
Dies hat Auswirkungen auf unsere Analyse. Denn wenn sich anhand der Nationalratsabstimmungen keine interpretierbaren Unterschiede zwischen den parteiinternen Links-rechts-Positionen feststellen lassen, dann ist es für diese Parteien sinnlos, die interne Reihenfolge mit den (ihrerseits mit Vertrauensintervallen behafteten) smartvote-Positionen zu vergleichen. Dabei handelt es sich aber um ein rein statistisches Problem, nicht um ein Qualitätsproblem des smartvote-Fragebogens.
Abbildung 3 stellt nun den Vergleich der Links-rechts-Positionen analog zu Abbildung 1, jedoch einzeln für die fünf grossen Parteien dar. Erwartungsgemäss fällt der Vergleich bei der CVP, wo die parteiinterne Reihenfolge recht sicher eingeschätzt wird, am besten aus und am schlechtesten bei der SP, wo sich die Vertrauensbereiche eben stark überlappen.
Die Ausgangsfrage lautete: Vermittelt der smartvote-Fragebogen ein gutes Abbild der Parlamentsrealität? In aller Kürze lautet die Antwort: Ja. Mit seinen 70 Fragen repräsentiert er die politischen Grundkonflikte, welche die Parteien auf der Links-rechts-Achse verorten, recht gut. Und: Nein, weil das Antwortverhalten von Kandidierenden weniger diszipliniert ist als das Stimmverhalten der Gewählten im Parlament.
1 Vgl. dazu den Beitrag von D. Schwarz, L. Schädel und A. Ladner in der Schweizerischen Zeitschrift für Politikwissenschaft, 2010, 16(4), S. 533–64.
2 MCMC-basierte Schätzung eines Item Response-Modells (IRT). Das Modell lässt nur Ja/Nein-Antworten zu. Für die vorliegende Analyse wurden daher die smartvote-Antworten “eher Ja” als “Ja” und “eher Nein” als “Nein” gewertet, sowie im Budgetfragen-Block die Antwort “gleich viel ausgeben” als fehlender Wert qualifiziert. Weitere Angaben zur Modellschätzung sind beim Autor erhältlich.
Was aber wirklich geschmerzt hat und bis heute weh tut, ist das reale Wahlresultat, frei von allen virtuellen Berechnungen. Dies nur wenige Tage, nachdem mir smartvote die Augen geöffnet und gezeigt hatte, dass ich in Bern meine ganz persönliche Vertretung habe. Dank jener Nationalrätin, deren Antworten im deluxe-Fragebogen zu 84% mit den meinigen übereinstimmten!